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Flugsaurier Scaphognathus - das Fossil des Jahres 2021 der Paläontologischen Gesellschaft

Fossil des Jahres 2021 Palges Foto Oleschinski

Der Flugsaurier Scaphognathus crassirostris (Goldfuss, 1831) aus den Solnhofener Plattenkalken ist das Fossil des Jahres 2021 der Paläontologischen Gesellschaft. Foto: G. Oleschinski. Foto vergrößern.

 

Mit dem Flugsaurier Scaphognathus crassirostris begann eine Entwicklung, die Saurier heute allgemein bekannt macht. Der Bonner Professor für Zoologie und Paläontologie Georg August Goldfuß (1782-1848) wies an diesem Fossil aus den 150 Millionen Jahre alten Plattenkalken Süddeutschlands als erster die Behaarung der Flugsaurier nach. Dann ließ der mutige Pionier der Paläontologie anhand dieses Skeletts eine revolutionäre Zeichnung anfertigen. Sie war eine der ersten, die ein lange ausgestorbenes Tier lebendig und in seinem Lebensraum darstellte. Aber niemand zuvor hatte gewagt, solche Kunstwerke wissenschaftlich zu veröffentlichen und die eigene Lebendrekonstruktion genau zu begründen. Dennoch fügte Goldfuß die Zeichnung seiner Beschreibung des Flugsauriers 1831 bei.

 

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Abb. 1: Historische Rekonstruktion von Scaphognathus in seinem Lebensraum. Die Zeichnung von Christian Hohe stammt aus dem Jahr 1831. Damit war die als Teil einer größeren Tafel entworfene Abbildung die erste wissenschaftlich veröffentlichte Lebendrekonstruktion und der Beginn der Paläo-Kunst.

 

Diese „Paläo-Art“ hat es heute mit Filmen wie der „Jurassic Park“-Reihe bis in die Massenmedien geschafft. Paläo-Art inspiriert Jung und Alt, sich näher mit der Wissenschaft des erdgeschichtlichen Lebens auseinanderzusetzen. Die Paläontologische Gesellschaft hat Scaphognathus nun zum Fossil des Jahres gewählt.

 

Fundorte
Von dieser seltenen Flugsaurier-Art kennt die Wissenschaft nur drei Exemplare. Sie stammen aus den lithographischen Plattenkalken des Oberjura auf der Fränkischen Alb, nämlich aus der Gegend um Solnhofen und Eichstätt.

 

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Handkolorierte Lithographie des Originalfossils aus der Erstbeschreibung von 1831. Zeichnung: Christian Hohe. Foto vergrößern.

 

Ausstellungsorte
Das Skelett der Erstbeschreibung stellte Georg August Goldfuß im Naturkundemuseum der Universität Bonn aus. Die Fossiliensammlung dieses Museums trägt heute seinen Namen und feiert als Goldfuß-Museum ihr 200-jähriges Bestehen, sie eröffnete nämlich mit Beginn des Sommersemesters 1821. Zu diesem Anlass präsentiert sich das Fossil nach mehreren Ausleihen erstmals wieder in der Ausstellung.

 

Goldfuss

Porträt-Lithographie von Georg August Goldfuß. Goldfuß gründete vor 200 Jahren die Sammlung des Goldfuß-Museums und beschrieb 1831 den Scaphognathus. Zeichnung: Christian Hohe.


Weitere Originalfossilien dieser Art werden im Museum am Löwentor in Stuttgart sowie im Fossilien- und Steindruck-Museum in Gunzenhausen aufbewahrt. Abgüsse des Bonner Exemplars versendete Goldfuß schon im 19. Jahrhundert an zahlreiche Museen in Europa. Sogar im University Museum in Oxford und im Texas Memorial Museum in Austin sind Abgüsse dieses Stücks Teil der Dauerausstellung.

 

Meilensteine der Paläontologie
Goldfuß hatte das Skelett eingehend untersucht, nachdem er es selbst präpariert hatte. Er entdeckte bei der Versteinerung eine Art Behaarung und beschrieb, wie sehr sich der ausgestorbene Körperbau von allen heutigen Tieren unterschied. Trotzdem entwickelte er eine Vorstellung von der Lebensweise des Flugsauriers als aktivem Flieger. Er ließ den Universitäts-Zeichenlehrer Christian Hohe das Tier in mehreren Lithographien darstellen und die Drucke aufwändig von Hand colorieren. Die Abbildung von zwei lebenden Scaphognathus-Exemplaren mit Haut und Haar im Flug und an einer Klippe brachte Goldfuß‘ Annahmen von der Lebensweise des Tieres eindrucksvoll zur Geltung. Von da an begann die Forschung Abbilder von lebendigen Sauriern ernst zu nehmen und wissenschaftlich zu nutzen. Rekonstruktionen von Fossilien als lebende Organismen sind heute als sogenannte „Paläo-Art“ in der Forschung und in vielen Medien verbreitet. Sie begeistern zahlreiche Menschen und haben stark zur Verbreitung von Forschungswissen über Fossilien beigetragen. Die Ursprünge heutiger Saurier-Filme, -Cartoons, und -Figuren finden sich also in diesem Bonner Fossil und seiner wissenschaftlichen Interpretation.

 

Warmblütiger Flieger
Scaphognathus crassirostris war der erste Flugsaurier, bei dem eine Art Behaarung festgestellt wurde. Goldfuß beschrieb sie schon 1831 im Nackenbereich und auf der Flughaut. Das waren aber keine Haare, wie wir sie haben, weshalb die aktuelle Forschung sie „Pycnofasern“ nennt. Die Körperbedeckung deutet darauf hin, dass die Flugsaurier genau wie Vögel und Säugetiere Warmblüter waren. Das passt ins Bild, denn Flugsaurier wie Scaphognathus waren die ersten aktiven Flieger unter den Wirbeltieren und die genannten heutigen Gruppen sind Warmblüter. Anders als die Vögel flogen sie dabei nicht mit Federn, sondern hoben sich mit Flughäuten in die Luft, ähnlich den heutigen Fledermäusen. Auf dem Exemplar in Bonn sind Überreste der Flughaut bis ins kleinste Detail erhalten. Dass sich der aktive Flug bei Flugsauriern, Fledermäusen und Vögeln ohne engere Verwandtschaft unabhängig entwickelt hat, ist ein Paradebeispiel für konvergente Evolution.
Für einen Flugsaurier seiner Spannweite hat Scaphognathus crassirostris einen besonders großen Schädel mit starken Kiefern. Daher rührt auch sein Name, der „Dickschnabel“ bedeutet. Mit seinen robusten Kiefern jagte er wahrscheinlich Fische und Insekten. All diese noch heute gültigen Erkenntnisse sind schon bei Goldfuß nachzulesen, mit Ausnahme der Warmblütigkeit, die er aber bereits andeutete.
Scaphognathus kommt aus denselben Fundschichten des oberen Jura wie der Urvogel Archaeopteryx. Er gehört zu den Langschwanz-Flugsauriern, die wenig später ausstarben, während Vögel und kurzschwänzige Flugsaurier sich ausbreiteten.

 

Streit unter Wissenschaftlern?
Wenn wissenschaftliche Erklärungsmuster sich widersprechen, wird das gerne als Streit unter WissenschaftlerInnen dargestellt. Es ist aber Teil des wissenschaftlichen Fortschritts, dass im Lichte neuer Erkenntnisse bestehende Annahmen korrigiert werden müssen. So ist es auch mit der ursprünglichen Studie von 1831 geschehen. Goldfuß beschrieb den Scaphognathus vor fast 190 Jahren als die vierte Art von Flugsauriern überhaupt und konnte sich dabei auf viel weniger Wissen stützen als seine Nachfolger. So stellte er den Flugsaurier mit fünf Fingern dar. Tatsächlich zeigt kein Flugsaurier allerdings mehr als vier. Auch zählte er den Scaphognathus zu den Kurzschwanzflugsauriern, da der Teil der Platte mit dem langen Schwanz fehlte und zu seiner Zeit noch keine Langschwanzflugsaurier bekannt waren. Am spannendsten aber entwickelte sich die Diskussion um das Haarkleid der Flugsaurier. Nachdem Goldfuß’ ZeitgenossInnen seine Beschreibung einer Art Mähne an dem Fossil akzeptierten, zweifelten PaläontologInnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch seine Erkenntnisse vehement als unwissenschaftlich an. Verwandtschaftlich stellte sich immer klarer heraus, dass die Flugsaurier eindeutig zu den sonst unbehaarten Reptilien zählen. Bei Entdeckungen von weiteren behaarten Flugsauriern Anfang des 20. Jahrhunderts war seine Arbeit bereits in Vergessenheit geraten. Obwohl sich solche Funde in den folgenden Jahrzehnten mehrten, wurde das Bild der behaarten, warmblütigen Flugsaurier erst im neuen Jahrtausend allgemein anerkannt.

 

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Abb. 5: Unter langwelligem UV-Licht zeigt Scaphognathus seine Weichteilerhaltung als hellgrünen Schimmer. Quelle: Jäger et al. 2018. Foto vergrößern.


Neue Methoden der digitalen Fotografie und Aufnahmen unter UV-Licht machten 2018 eine Neuuntersuchung möglich. Am Bonner Exemplar ließen sich eindeutig Weichteilerhaltung und Pycnofasern (wie man haarartige Strukturen bei Flugsauriern nennt) nachweisen. Damit muss auch die Wissenschaftsgeschichte korrigiert werden. Goldfuß wird heute unangefochten als Pionier der paläobiologischen Forschung und wissenschaftlichen Paläo-Art anerkannt.

 

Text von der Paläontologischen Gesellschaft

 

Die weiteren Fossilien des Jahres der Paläontologischen Gesellschaft (seit 2008) sowie Informationen zu den Auswahlkriterien finden Sie unter

https://www.palaeontologische-gesellschaft.de/ueber-uns/fossil-des-jahres/