Mittlerer Jura

Pathologische Brachiopoden aus dem oberen Bathonium von Lion-sur-Mer (Normandie, Frankreich)


Vorbemerkung
Mein Mann Peter und ich sammeln seit 1983 Fossilien. Zunächst in Bénerville-sur-Mer und seit 2007 in Villers-sur-Mer. Dabei haben wir im Laufe der Zeit auch u. a. ein französisches Ehepaar - Mitglieder der „Association paléontologique de Villers-sur-Mer“ - kennen gelernt, denen ich mein besonderes Interesse für pathologische Fossilien schilderte. Sie baten mich für das einmal im Jahr erscheinende „L’Écho des Falaises“ über unsere pathologischen Ammoniten aus Bénerville-sur-Mer zu schreiben, was ich dann 2006 auch tat. In der Folge stellten wir 2008 auch unsere pathologischen Belemniten vor. Da die Erhaltung der Brachiopoden in Bénerville-sur-Mer äußerst mäßig ist, entschieden wir uns die dritte Folge über pathologische Brachiopoden aus Lion-sur-Mer zu schreiben. Eine etwas erweiterte Version dieses Artikels möchte ich Euch nun vorstellen.



Einführung
Die Literatur über pathologische Brachiopoden beginnt mit einigen Bemerkungen von MOODIE (1923) und MORTELMANS (1955). Erst 1962 veröffentlicht TASNÁDI-KUBASCA (1962) auf Grund von Verletzungen deformierte Brachiopoden. WARTH (1969), FÜRSISCH & PALMER (1984) und HENGSBACH (1991) erörtern Asymmetrie bei Brachiopoden und geben paläobiologische Interpretationen.

 

Material

 

Die Fundstelle von Lion-sur-Mer befindet sich am Ortsausgang in Richtung Luc-sur-Mer direkt am Ende einer kleinen zum Meer führenden rechts vom Campingplatz führenden Straße, die in einer Mole ausläuft. Weit hinter dem Molenende sind an Tagen mit hohem Koeffizienten – das Wasser zieht sich dann sehr weit zurück - in den fossilführenden Schichten des oberen Bathonium („Marnes blondes“) fast im Sekundentakt Brachiopoden aufzusammeln. Das brachte uns auf die Idee, die für einen Artikel über pathologische Brachiopoden nötige Masse, an dieser Stelle zu suchen.


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Von 1988 bis 2009 haben wir dort 4875 Brachiopoden - davon 330 pathologische Exemplare - gesammelt. Um die verschiedenen Ursachen der Anomalien betrachten zu können, haben wir zwischen den Unter-Familien Zelleriacea (hier: Digonella), Terebratulacea (hier: vorwiegend Cererithyris) und Rhynchonellacea (hier: Kallirhynchia, Goniorhynchia, Kutchirhynchia) unterschieden.


Pathologische Erscheinungen


1. Schalenverletzungen
Die Schale dieser Brachiopoden besteht aus Kalzitprismen, die relativ elastisch ist. Dadurch überstand sie Angriffe von Fressfeinden wie Wirbeltieren, Gastropoden und Crustaceen besser, da teilweise die Schalen lediglich eingedrückt statt frakturiert wurden. (TASNÁDI-KUBASCA, 1962). Am häufigsten fanden wir Eindrückungen oder Verletzungsspuren an gegenüberliegenden Stellen der Klappen d. h. beidseitig der seitlichen oder der unteren Kommissur (Berührungslinie beider Klappen), verursacht durch Bisse von Fischen oder Reptilien. (siehe Abb. 1, Abb. 2, Abb. 3, Abb. 4, Abb. 5, Abb. 6, Abb. 7, Abb. 8).
Bei einzelnen Exemplaren kommen stichartige (Abb. 9, Abb. 10) oder kastenförmige Regenerationen (Abb. 11) vor.
Manche Brachiopoden entwickelten ein unregelmäßiges Erscheinungsbild in Folge schwerster Schalenverletzungen. (Abb. 3, Abb. 6, Abb. 7/8).


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Abb. 1: Digonella sp., L=21 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

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Abb. 2: Kallirhynchia sp., L=17 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

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Abb. 3: Kallirhynchia sp., L=15 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

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Abb. 4: Kallirhynchia sp., L=21 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

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Abb. 5: Kutchirhynchia sp., L=17 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

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Abb. 6: Goniorhynchia sp., L=25 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

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Abb. 7: Dicthyothyris coarctata., L=17 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

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Abb. 8: Derselbe Brachiopode wie auf Abb. 7 mit verzeichnetem Versatz.

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Abb. 9: Cererithyris sp., L=10 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

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Abb. 10: Digonella sp., L=17 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

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Abb. 11: Kallirhynchia sp., L=17 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.


2. Deformationen
Einige Brachiopoden haben ein unregelmäßiges Erscheinungsbild ohne eine sichtbare Verletzung. Vermutlich entstand diese Abweichung von der bilateralen Symmetrie durch pathologische Wachstumsstörungen, verursacht durch Hindernisse, sei es z. B. durch benachbarte Steine oder dicht gedrängte Lebensweise in so genannten Brachiopodennestern. (Abb. 12, Abb. 13, Abb. 14)

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Abb. 12: Digonella sp., L=18 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

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Abb. 13: Digonella sp., L=17 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

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Abb. 14: Digonella sp., L=19 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.


3. Rechts-Links-Asymmetrien
Die nachfolgend vorgestellten Asymmetrien entstanden in Folge einer Störung des Bauplans. Kontrovers diskutiert wird ob Reaktionen auf besondere Umwelteinflüsse (z. B. Lage zur nahrungsführenden Strömung), parasitärer Befall und endogene Erkrankungen ursächlich für diese Rechts-Link-Asymmetrien sind.
Diese hier vorgestellten Kommissur-Asymmetrien sind nicht auf eine linke oder rechte Seite fixiert, sondern kommen gleichermaßen auf beiden Seiten vor.

3.1. Kommissur-Asymmetrien

3.1.1 Seitenlappen-Asymmetrie
Hierbei ist eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Vergrößerung oder Verkümmerung eines Seitenlappens zu konstatieren. Dieses Phänomen erscheint bei unseren pathologischen Brachiopoden ausschließlich bei den Terebratuliden. (Abb. 16, Abb. 17, Abb. 18)


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Abb. 15: Brachiopoden ohne Anomalie - die Fotos zeigen den gewöhnlichen Verlauf der Kommissur.

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Abb. 16: Cererithyris sp., L=24 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

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Abb. 17: Cererithyris sp., L=26 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

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Abb. 18: Cererithyris sp., L=24 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.


3.1.2 Flexur-Symmetropathie
Diese Bezeichnung wurde für eine Verzerrung der Schale entlang der Kommissur geprägt und kommt bei den hier vorgestellten Brachiopoden ausschließlich bei den Rhynchonelliden vor.
(Abb. 19, Abb. 20, Abb. 21, Abb. 22)

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Abb. 19: Kutchirhynchia sp., L=16 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

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Abb. 20: Goniorhynchia sp., L=24 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

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Abb. 21: Goniorhynchia sp., L=26 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung : Hüne.

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Abb. 22: Kallirhynchia sp., L=18 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

FÜRSICH & PALMER (1984) betrachten die Seitenlappen-Asymmetrie und die Flexur-Symmetropathie als verschiedene Varianten des gleichen Phänomens und sprechen daher auch lediglich von Kommissur-Asymmetrien. Unsere Statistik kann diese Annahme bestätigen, da von unseren pathologischen Brachiopoden 17,0% eine Seitenlappen-Asymmetrie und 17,3 % eine Flexur-Symmetropathie aufweisen.

3.2. „Seiten-Asymmetrie“
Für diese von uns bei 66 Brachiopoden vorgefundene Asymmetrie, die sich durch ein schiefes Aussehen der Schale entlang der beiden Seiten der Kommissur kennzeichnet, haben wir keine entsprechende Veröffentlichung gefunden. Die beiden Seiten sind in unterschiedlichen Winkel gewachsen und der Rundungsbeginn der Schale ist höhenversetzt. Da diese Wachstumsstörung bei allen drei Familien gleichermaßen vorkommt und dazu auch noch in nahezu gleicher prozentualer Verteilung von 17,7 % sind meines Erachtens nach endogene Erkrankungen auszuschließen. (Abb. 23, Abb. 24, Abb. 25, Abb. 26, Abb. 27, Abb. 28)

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Abb. 23: Kallirhynchia sp., L=19 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

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Abb. 24: Kallirhynchia sp., L=19 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

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Abb. 25 a: Kallirhynchia sp., L=18 mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

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Abb. 25 b: Durch die Einzeichnung der Symmetrieachsen wird die Asymmetrie des Brachiopoden von Abb 25 a noch besser nachvollziehbar.

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Abb. 26: Kallirhynchia sp., L=15mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

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Abb. 27: Digonella sp., L=18mm, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

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Abb. 28: Cererithyris sp., L=15m, ob. Bathonium, Lion-sur-Mer, Foto u. Sammlung: Hüne.

Verteilung der pathologischen Phänomene
Die Anzahl der Rhynchonelliden von 2776 ist absolut ausreichend für eine statistische Aussage. Die Anzahl der Zeilleriden von 1141 und die der Terebratulliden von 958 sind ebenfalls ausreichend.
Die Verteilung von Anomalien ist bei den einzelnen Unterfamilien verschieden. 5,5% der Zeilleriden, 4,8% der Terebratuliden und 8,0% der Rhynchonelliden weisen eine pathologische Erscheinung auf.
Fast 60% der pathologischen Exemplare haben eine Verletzung erlitten. 78% davon zeigen hierbei eine regenerierte Blessur beidseitig der Kommissur.
Mehr als 30% der pathologischen Brachiopoden zeigen Rechts-Links-Asymmetrien mit einer Veränderung des symmetrischen Bauplans.
Etwa 10 % der anormalen Brachiopoden haben ein unregelmäßiges Erscheinungsbild.

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Abb. 29: Statistik über die Anomalien.


Bibliographie:


ALMÉRAS, Y. & GUÉGAN, J. M. (2008) - Les Rhynchonellidées du Jurassique moyen (Bajocien-Bathonien) de Normandie, L'Ècho des Falaises, 12 : 7-25p, Villers -sur -Mer.

FÜRSICH, F. T. & PALMER, T. (1984) - Commisural asymmetry in brachiopods.Lethaia17: 251-265p, Oslo

HENGSBACH, R. (1991) - Die Symmetropathie, ein Beitrag zur Erforschung so genannter Anomalien. Senckenbergiana lethaea, 71, (3/4): 339-366p, Frankfurt am Main.

HÜNE L.& P. (2006) - Des phénomènes paléopathologiques chez une faune d'Ammonites du Callovien supérieur de Bénerville - sur- Mer (Calvados, France), Echo des Falaises, 10 : 33-37p., Villers-sur-Mer.

HÜNE L.& P. (2008) - Des phénomènes paléopathologiques chez une faune de Bélemnites du Callovien supérieur de Bénerville - sur- Mer (Calvados, France), Echo des Falaises, 12 : 67-70p., Villers-sur-Mer.

HÜNE L.& P. (2009) - Des phénomènes paléopathologiques chez une faune de Brachiopodes du Bathonien supérieur de Lion-sur-Mer (Calvados, France), Echo des Falaises, 13 : 49-55p., Villers- sur- Mer.

MOODIE, R. L. (1923) - Paleopathology. Illinois

MORTELMANS, G. (1955) - Note sur une anomalie de croissance d'un Productus aff.
pustulosus PHILIPS provenant de Waulsort. Bull. Soc. Géol. Belge, 64 : 172

PALMER, A. R. (1996) - From symmetry to asymmetry: Phylogenetic patterns of asymmetry variation in animals and their evolutionary significance, Proc. Natl. Acad. Sci. USA, 93: 14279-14286p, Colloquium Paper, Edmonton, Canada

SULSER,H. (1999) - Die fossilen Brachiopoden der Schweiz und der angrenzenden Gebiete Jura- Gebirge und Alpen. Paläontologisches Institut und Museum der Universität
Zürich, Zürich, 315 p.

TASNÁDI-KUBACSKA A. (1962) - Paläopathologie. VEB Gustave Fischer Verlag, Jena, 269p.

WARTH, M. (1969) - Asymmetrische Reaktionsformen von Rhynchonelliden (Brachiopoda) aus dem oberen Jura Württembergs. Stuttgarter Beiträge zur Naturkunde, 212, Stuttgart.


Bericht und Fotos: Liane Hüne